Die allmähliche Entmilitarisierung des Schweizer Sports

Mit dem Gesetz vom 17. März 1972 und der Einführung des J+S-Programms wurde die Entmilitarisierung der Schweizer Gesellschaft auch in den Sportkreisen eingeleitet. Ein Prozess, der auch zwischen 1984 und 1998 durch die vorübergehende Zuordnung des Sports zum Eidgenössischen Departement des Innern sichtbar wird. Der Historiker Marco Marcacci analysiert einen für die Geschichte von J+S grundlegenden Prozess.

Mit der Gründung von Jugend+Sport durch das Gesetz vom 17. März 1972 wurde der Armee die Aufgabe der sportlichen Körperertüchtigung der Jugend entzogen. J+S ersetzte den ehemaligen ‚Militärischen Vorunterricht‘, der bis dahin Jungen vorbehalten war. Die körperliche Ertüchtigung der zukünftigen Soldaten spielte nun eine untergeordnete Rolle, da die Erhaltung der Gesundheit der Bevölkerung, wirtschaftliche Interessen (im Zusammenhang mit Freizeit und Tourismus) sowie sportliche Interessen (bei internationalen Wettkämpfen mehr Medaillen gewinnen) in den Vordergrund traten. Damit wurde eine fast hundertjährige Aufsicht des Militärs über den Jugendsport aufgehoben, denn mit einer Bundesverordnung über die Militärorganisation war 1874 das Turnen an den Grundschulen für obligatorisch erklärt worden.
Das Gesetz von 1972 führte in den ersten Monaten zunächst zu keinen radikalen Veränderungen. Der Prozess der ‚Entmilitarisierung der Sportwelt‘ begann zwar weit vor 1972, war aber in den ersten Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts immer noch nicht abgeschlossen. Viele ‚militärische‘ Aspekte haben auch heute noch Bestand, denn der Sport fällt auf Bundesebene immer noch in das Ressort des Eidgenössischen Departements für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport (VBS, früher Eidgenössisches Militärdepartement) und die sportliche Betreuung unterliegt einer gewissen hierarchischen Organisation. Nichtsdestotrotz gewannen spätestens seit den 1920er-Jahren Spiel-, Freizeit- und körperliche Leistungskomponenten im obligatorischen Turnunterricht und in der sportlichen Ausbildung in den lokalen Vereinen an Bedeutung. Der Zweite Weltkrieg bedeutete in dieser Hinsicht einen relativen Rückschritt, doch die Jahre 1950–1960 waren geprägt vom Aufschwung des Frauenturnens und den kurz darauf eingeführten Wettkämpfen, von einer Demokratisierung des Wintersports und einer ersten Diversifizierung der von der Bevölkerung ausgeübten sportlichen Aktivitäten, denen nicht mehr die früheren starren militärischen Absichten zugrunde lagen. Vor dem geopolitischen Hintergrund des Kalten Krieges hatte die Schweiz zwar Grund zur Besorgnis, trotzdem konnte die Bevölkerung durch den materiellen Wohlstand der «Trente glorieuses» (also der 30 ‚glorreichen‘ Nachkriegsjahre) erneut zur Teilnahme am Sport motiviert werden.

Das Gesetz von 1972 führte in den ersten Monaten zunächst zu keinen radikalen Veränderungen. Der Prozess der «Entmilitarisierung der Sportwelt» begann zwar weit vor 1972.

Diese Dynamik der Sportbewegung spiegelt weitgehend die gesellschaftlichen Veränderungen wider, die im Mai 68 zum Ausdruck kamen. Nach diesen Ereignissen und den neuen Forderungen der Jugend bemühte sich das Militär um eine Reform und gründete eine Kommission ‚für Fragen der militärischen Erziehung und Ausbildung der Armee‘. Der 1970 von dieser Kommission vorgelegte Bericht sprach sich dafür aus, eine neue «Disziplin» einzuführen, die zu mehr Reflexion und Beteiligung anregt und gleichzeitig die hierarchischen Praktiken vereinfachen sollte. Später, in den 1980er-Jahren, führten die Gründung der ‚Gruppe für eine Schweiz ohne Armee‘ (GSoA) und ihr relativer politischer Erfolg in Verbindung mit einem tiefgreifenden Umdenken zu einer Reduzierung des Mannschaftsbestands und zur Abschaffung der Grenz- und Reduitbrigaden.
Zu Beginn des 21. Jahrhunderts wurde der Sport wieder dem VBS unterstellt, nachdem er seit 1984 dem Eidgenössischen Departement des Innern unterstellt war. Zu diesem Zeitpunkt wurde die alte Redewendung ‚ein gesunder Geist in einem gesunden Körper‘ zur Hauptmotivation für die Sportlerinnen und Sportler. Die Armee nahm allmählich einen anderen Stellenwert ein und unterstützte die Spitzensportlerinnen und -sportler bei der Vorbereitung auf grosse Wettkämpfe – dieser Gedanke war in den 1960er-Jahren noch heftig umstritten.