Der Turnverein

Mit 380 000 Mitgliedern und über 3000 lokalen Vereinen verkörpert das Turnen die Dynamik des schweizerischen Vereinswesens auf einzigartige Weise. Gil Mayencourt, Historiker an der Universität Lausanne, stellt diesen wichtigen Ort des Sports in der Schweiz vor.

Der Eidgenössische Turnverein (ETV), der anlässlich des ersten Eidgenössischen Turnfestes im Jahr 1832 gegründet worden war, änderte seinen Namen im Jahr 1986 in Schweizerischer Turnverband (STV), als er mit dem 1908 gegründeten Frauenturnverband fusionierte. Es ist eine einzigartige Organisation, bei der insbesondere die Förderung der Polysportivität im Vordergrund steht und die sich über die Zeit behaupten konnte. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts betrieben mehr STV-Mitglieder Leichtathletik als Swiss Athletics Mitglieder hat.

Zunächst denke ich, etwas überspitzt formuliert, dass der Eidgenössische Turnverein in gewisser Weise der Vorläufer von Jugend+Sport ist.

Mit 3000 Turnvereinen, die Mitglied des STV sind, und vermutlich genauso vielen Vereinen, die nicht Mitglied des STV sind, gibt es in der Schweiz weit mehr Vereine als Gemeinden (im Jahr 2022 gab es 2145 Gemeinden). Daher ist leicht nachvollziehbar, dass der «Turnverein» in der sportlichen Karriere einer grossen Mehrheit der Sportlerinnen und Sportler einen wichtigen Platz einnimmt. Diese Tatsache beruht auf mindestens zwei Umständen: Erstens gibt es Strukturen für eine sehr frühe Aufnahme (noch vor dem offiziellen J+S-Alter), wie die «Eltern-Kind»-Kurse, und zweitens besteht ein bewusster polysportiver Charakter mit ersten Übungen an Geräten neben Ballspielen und Leichtathletikübungen.

Historisch gesehen ist der hochgradig «polysportive» Charakter des Schweizer Vereinsturnens auch wegen oder dank der Konkurrenz zwischen dem Eidgenössischen Turnverein und den modernen englischen Sportarten wie Fussball zu erklären, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts allmählich in der Schweiz Einzug hielten. Die Leiter des ETV lehnten diese Sportarten zunächst insbesondere wegen ihres kosmopolitischen Charakters strikt ab, da aufgrund der Wettkämpfe, der Preisgelder und des Rekordstrebens ihrer Meinung nach das patriotische und reine Idealbild der körperlichen Ertüchtigung in Schieflage geraten würde. Nach und nach öffneten sie sich jedoch den modernen Sportarten, um für die Schweizer Jugend attraktiv zu bleiben, zumal die Mitgliederzahlen des ETV Anfang des 20. Jahrhunderts stagnierten. Die Leichtathletik wurde im Programm der Eidgenössischen Turnfeste institutionalisiert, und einige Sportarten hielten in angepasster Form Einzug in den ETV, wie Faustball oder Gymball, eine Abart des Handballs. In den 1930er-Jahren organisierte der ETV Skikurse und -lager, um mit dem Schweizer Skiverband zu konkurrieren.

Man muss sich auch vor Augen halten, dass die Konkurrenz zwischen Turnen und modernen Sportarten auf lokaler Ebene viel geringer ist. Ende des 19. Jahrhunderts gab es beispielsweise regionale Turnvereine, in denen Boxen und sogar Fussball angeboten wurden.